Die schwerste Entscheidung

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Dieser Blogbeitrag ist für alle Tierhalter, die vor der einen großen Entscheidung stehen: der Euthanasie. Der Beitrag hilft euch nicht, eine Entscheidung zu treffen, er beantwortet auch nicht, ob ihr richtig entschieden habt, er erteilt euch keine Absolution, er tilgt weder Schmerz noch Zweifel, aber er zeigt: Ihr seid nicht alleine!

Ist ein Tier unheilbar erkrankt, kommt früher oder später die Frage nach der Euthanasie auf. Das Wort Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet so etwas wie schöner Tod. Viele Tierbesitzer nutzen auch Synonyme wie Einschläfern oder Erlösen. Aber was ist am Tod des geliebten Tieres schön? Je länger und schleichender der Krankheitsverlauf, desto eher quälen sich Tierhalter mit der Frage, nach dem ob und dem wann? Selten ist der Krankheitsverlauf eine linear fallende Gerade; der Gesundheitszustand ist mit seinen Höhen und Tiefen, den guten und schlechten Tagen eher eine Amplitude mit Abwärtstendenz, in der es schwer ist, den richtigen Augenblick des Loslassens zu finden.

Von Außenstehenden hört man als verzweifelter Halter oft nur den Spruch: „Dann erlöse das Tier doch oder willst du, dass es leidet?“. Selbst in Tier-Foren und -Gruppen scheint man sich einig zu sein: Die Euthanasie ist scheinbar immer das Mittel der Wahl und jeder Halter, der Zweifel an der Euthanasie hegt, wird als Tierquäler abgestempelt. Unzählige Male hörte und las ich den Satz schon: „Also, wenn ich Schmerzen hätte, dann würde ich auch davon erlöst werden wollen.“ Die Euthanasie? Ein Akt der Menschlichkeit?

Erst letzte Woche gehörte ich auch (wieder) zu denen, die diese wohl schwerste Entscheidung im Leben eines Tierhalters zu treffen hatten. Meine kleine Lieblingshenne, die zutrauliche Violetta, quälte vermutlich ein Nierentumor. Tagtäglich wog ich die Situation auf’s Neue ab, hinterfragte meine Entscheidungen, kaum, dass ich sie getroffen hatte. Wochenlang quälte mich die Frage, ob das, was ich tue richtig ist. Wenn die Euthanasie bei Tieren als einen Akt der Menschlichkeit dargestellt wird, warum ist Sterbehilfe dann nicht bei Menschen erlaubt? Hat das vielleicht auch einen Sinn, weil wir alle nur dieses eine Leben haben, was so wichtig ist, dass man es bis zum allerletzen Atemzug erhalten muss – notfalls auch gegen den Willen des Patienten? Würde ich nicht auch bis zum Schluß kämpfen, weil kein physischer Schmerz der Welt so viel Bedeutung haben kann, wie eine weitere Stunde mit meiner Familie? Bin ich egoistisch, wenn ich Violetti nicht einschläfern lasse? Leidet sie so sehr, dass ich ihr weiteres Leid nicht zumuten darf? Handele ich im Sinne meiner Tieres? Oder erlöse ich sie nur, damit ich meinen Seelenfrieden finde und nachts wieder durchschlafen kann? Ich googlete im Netz, las alle Artikel zu dem Thema, erkundigte mich bei anderen Wellensittichhaltern mit Tumorpatienten, durchforstete Berichte von Menschen mit Nierentumoren – alles mit dem Hintergrund herauszufinden, ob mein Tier Schmerzen leidet und um Antworten auf meine Fragen zu erhalten. So sehr ich auch suchte, nirgendswo stand: „Wencke, du hast die Entscheidung X zu treffen, denn dies ist das einzig Richtige!“

Alles begann am 21. Mai 2016, einem Samstag. Es war einer unserer „Schluffeltage“ – es standen keine Termine an, also verbrachte ich den größten Teil des Tages daheim. Die Wellensittiche spielten draußen und Violetta beschäftigte sich mit ihrem Lieblingsspielzeug. Bei dem Foragingspielzeug kann man durch anheben und wegdrehen von Deckeln kleine Felder öffnen, in den Hirse liegt. Sie hatte als erste den Trick herausgefunden und wann immer das Bird Toy auf dem Tisch stand, flitzte sie hin, um es in sekundenschnelle zu lösen. Icaro durchschaute zwar nicht das System, wusste aber, dass er nur abwarten musste, bis Violetta alle Dosen geöffnet hatte, um sie schließlich wegzuschubsen… So auch an diesem Tag. Bei den ersten Deckeln einigte man sich. Plötzlich quickte Violetti laut auf. Ich hatte dem Treiben nur aus dem Augenwinkel zugeschaut und konnte daher nicht sagen, ob sie gebissen worden ist oder sich vertreten hat beim Ausweichen vor dem schnappenden Icaro. Auf jeden Fall entlastete sie das Füßchen. Da sich Wellensittiche grundsätzlich immer erst Samstagmittag nach Schließung der Notfallsprechstunde verletzen, entschloss ich mich, erst einmal abzuwarten.

Am Montag entlastete Violetta immer noch leicht, also ging ich mit ihr zu unserer Vogelpraxis. Dort konnte nichts auffälliges festgestellt werden, außer eine leichte Rötung an einer Zehe. Mit einem Schmerzmittel, so hofften wir, würde es sich im Falle einer Zerrung sicher bald geben. In der darauffolgenden Woche war ich wieder in der Sprechstunde: Ich wollte ein Röntgenbild, da Violetta ihren rechten Ständer immer mehr entlastete. Auch der Greifreflex ließ nach. In den folgenden acht Wochen wurden wir zu Stammkunden. Schmerzmittel, Antibiotikum und Cortison brachten keinen Erfolg. Die Muskulatur baute sich rasant ab und Violetti humpelte nur noch auf einem Bein durch das Zimmer und ihre Ruhezeiten wurden immer länger. Es wurde ein weiteres Röntgenbild angefertigt, als sich der Verdacht auf einen Nierentumor verdichtete. Aber nichts lieferte ein eindeutiges Ergebnis.

Am 4. Juli 2016 sagte man mir, dass ich mich mit der Tatsache abfinden müsse, dass Violetta „austherapiert“ sei. Die Medikamente wurden abgesetzt und es kam zu einer leichten Verbesserung, da die Verdauung nicht mehr weiter belastet wurde. Ich wusste dennoch, was dies bedeutete… Und trotzdem wäre ich nicht ich, wenn ich es in der darauffolgenden Woche nicht noch einmal probiert hätte. Violetta schlief inzwischen vermehrt auch tagsüber und suchte sie das Sitzbrettchen dazu auf, um ihren gesunden Ständer zu schonen. Außerdem fühlte ich mich zunehmens unter Druck gesetzt: Am 15. Juli, so wusste ich, würde die Vogelpraxis für zwei Wochen schließen.

Als ich also am 11. Juli die Praxis aufsuchte, rechnete ich damit, dass die Tierärztin mich nicht wieder mit Violetti ziehen lassen würde. Violetti und ich schauspielerten was das Zeug hielt; den erfahrenen Augen meiner Tierärztin entging es natürlich nicht. Ich äußerte ehrlich, dass ich mich wegen der Sommerpause unter Druck gesetzt fühlte und ich Violetta an diesem Tag nicht hätte gehen lassen wollen, da sie noch alleine fraß, mit den anderen auf der Schlafschaukel saß, kurze Strecken flog und ihr Partner sich sehr liebevoll um sie kümmerte. Die Tierärztin bot mir an, dass ich, wenn es an der Zeit ist, mich melden könnte, da sie in Berlin ist. Mir fiehl ein Stein vom Herzen. Es war das letzte Mal, dass ich mit Violetti die Praxis lebendig verlassen konnte.

Ich wusste, dass jeder Tag mit meiner zahmen Henne kostbar war und tat alles, damit sie es die restlichen Tage noch so schön wie möglich hatte. Der Gesundheitszustand verschlechterte sich aber zunehmens und auch in der Nacht flatterte Violetti meistens zwischen 2 und 3 Uhr auf den Volierenboden. Ich stand jedesmal vor Schreck senkrecht im Bett und rannte zum Käfig. Täglich wuchs in mir der Zweifel – ich merkte, dass Violettas Ende kurz bevorstand. Am Sonntagabend schrieb ich die Tierärztin an und erkundigte mich nach dem, was unausweichlich war. Am Montagfrüh erhielt ich eine Antwort mit dem Mittwoch als Terminvorschlag. Ich rang mit mir… sollte ich den Termin wahrnehmen? Ich durchlebte eine Achterbahn der Gefühle. Ich war bereits dreimal dabei, als Wellensittichen von mir durch einen unbemerkten Rückfall an Trichomonaden die Atmung versagte, durch Niereninsuffizienz die Organe innerlich bluteten und durch Krampfanfälle der Erstickungstod folgte. All dies geschah jeweils unerwartet, aber diesmal hatte ich es in der Hand, meiner geliebten Violetta solch ein schreckliches Ende zu ersparen. Am Folgetag saß ich abends mit Violetti in der Hand mit meinem Freund zusammen. Die Kleine verputzte eine  halbe Kolbenhirse und flog dann durch das Zimmer zu ihrem Partner, um sich ausgiebig kraulen zu lassen. Nach einem langen Gespräch entschlossen wir, dass wir Violetta nicht am nächsten Tag erlösen lassen wollen. Mein Freund war in Rufbereitschaft und sicherte mir zu, dass er jederzeit zu der nur wenige Autominuten entfernt liegende 24-h-Tierklinik fahren würde, wenn es so weit wäre.

Ich weiß nicht genau, was mich am nächsten Vormittag dazu bewegte, den Termin allerschwersten Herzens doch anzunehmen. Ich durfte an diesem Tag Überstunden abbummeln und war bereits Mittags wieder Daheim. Violetti saß teilnahmslos und schlafend in einer Käfigecke, das Frühstück war unangestastet. Das tägliche Wiegen hatte ich mir schon Wochen zuvor angewöhnt. An diesem Tag war ein erheblicher Gewichtsverlust festzustellen. Sie hatte die „magische Grenze“, die ich mir gesetzt hatte, unterschritten. Als ich mich noch eine Stunde mit ihr auf das Sofa gesetzt hatte, um mich zu verabschieden, begann sie zu würgen und spuckte Körner und Schleim. Der kleine Körper zitterte unter der Anstrengung. Ich betete, dass wir es noch rechtzeitig in die Praxis schaffen würden.

Ich weiß nicht, ob es an diesem Morgen Intuition war oder Glück… oder ob mir Violetti diese schwere Entscheidung erleichtern wollte. In der Praxis kuschelte sie sich wie gewohnt in meine Hände und blinzelte mich nochmal an, als eine Träne ihren Flügel traf. Die Ärztin nahm sie nur ganz kurz hoch, tastete Violetti zur Kontrolle ab, bestätige mir, dass es die richtige Entscheidung sei und setzte dann die Spritze, bevor sie mir Violetti wieder zurück in die Hand setzte.

Das kleine Federknäul kuschelte sich wieder in meine warme Hand und schloss die Äuglein. Eine Weile noch fühlte ich das Herzchen schlagen, bevor es für immer aufhörte…

Bild_Wellensittich_Violetta

2 Gedanken zu “Die schwerste Entscheidung

  1. Es tut mir sehr Leid, dass Violetta von dir gegangen ist. Verfolge deinen Blog schon eine ganze Weile. Das zu lesen hat mich sehr traurig gemacht. Ich kann mir vorstellen wie schwer du dir die Entscheidung gemacht hast. Aber so konnte die Kleine in deinen Händen einschlafen anstatt zu ersticken. Ich denke an dich!!

    • Danke, Amy, ich bin immer noch sehr traurig, weil ich sehr an Violetti gehangen habe. Aber die vielen schönen Erinnerungen nehmen langsam überhand! 🐤❤

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