Wurzeln & Flügel


Der Plan war so einfach wie genial: Ich hatte mir den Wecker auf Vibrationsalarm kurz vor Sonnenaufgang gestellt, schlug die Decke langsam beiseite, setzte einen Fuß nach dem anderen vorsichtig auf den Boden und schlich auf Zehenspitzen durch den Flur, vorbei an Quarantänezimmer, Vogelzimmer und Wohnzimmer, um in die Küche zu gelangen. Ich griff in den Schrank, um mir ganz leise eine Tasse und einen Teebeutel herauszunehmen. Dann drehte ich mich zum Wasserkocher um – da passierte es! Scheppernd knallte ein Teelöffelchen in das Spülbecken und löste in der gesamten Wohnung ein akustisches Inferno aus.

Heute ist ein ganz besonderer Tag und das nicht nur, weil heute Heiligabend ist. Nein, heute endet auch mein (gesetzlicher) Mutterschutz und das bedeutet, wie man schnell errechnen kann, dass unser Küken genau acht Wochen alt ist. Er ist auch der Grund für meine wochenlange Blog-Abstinenz, denn ganz so leicht wollte der kleine Mann es uns nicht machen. Volle drei Tage musste ich im Kreißsaal leiden, bis man sich endlich für eine Sectio entschied (das Küken und ich hatten inzwischen stark erhöhte Entzündungswerte). In den kurzen Pausen zwischen zwei Wehen musste ich unweigerlich an Legenot denken. Ich kann mir jetzt im entferntesten vorstellen, wie Wellensittichhennen leiden müssen und kann nur an jeden appellieren, schnellstmöglich mit seinem Vogel einen fachkundigen Tierarzt aufzusuchen!

Mein Partner hatte es die drei Tage und die Woche danach auch nicht leicht: Er ist mehrmals täglich zwischen Krankenhaus und Wohnung hin- und hergependelt, da Antonia ihre Aspergillose-Medikamente brauchte und auch die übrigen Wellis sich über frisches Wasser und Futter gefreut haben. Sechs Tage nach der Entbindung durften wir endlich nach Hause und ich konnte es kaum erwarten, meine kleinen Scheißerchen wiederzusehen. Noch nie war ich so lange von meinen Wellensittichen getrennt gewesen! Als ich ins Vogelzimmer kam, merkte ich sofort, dass bei Venilia etwas nicht stimmte. So kam es, dass der erste Ausflug im Leben unseres Sohnes in die Vogelpraxis führte. Kein schlechtes Omen – schließlich habe ich schon pränatal damit angefangen, den künftigen Berufsweg meines Kindes manipulativ zu beeinflussen und war während der Schwangerschaft geschätzt dreimal so oft beim vogelkundigen Tierarzt als bei der Frauenärztin. Obwohl bei dem Termin auf dem Röntgenbild „nur“ Gicht zu sehen war und in den folgenden Wochen auf weiteren zwei Röntgenbildern keine organischen Veränderungen zu sehen waren, sagte mir mein Gefühl, dass wir es mit einem Tumor zu tun hatten. Leider sollte ich recht behalten und meine kleine Venilia verstarb am 12.12.2017 an einem Lebertumor. Sie ist damit der dritte Vogel mit Tumor von fünf Wellensittichen, die ich alleine in diesem Jahr verloren habe. Ich habe zum Thema „Tumor bei Wellensittichen“ in den letzten Monaten mit diversen vogelkundigen Tierärzten in Berlin und Gießen gesprochen sowie Fachliteratur zu diesem Thema gewälzt und werde, sobald es mir die Zeit erlaubt, euch in diesem Blog darüber berichten.

Wer von euch glaubt, dass nun Ruhe eingezogen ist und wir friedlich vorm Weihnachtsbaum sitzen und „Stille Nacht“ singen, der täuscht sich gewaltig. Vor ein paar Tagen habe ich von zwei Familien wieder Wellensittiche zur Urlaubsbetreuung aufgenommen. Aus hygienischen Gründen halte ich die Tiere alle getrennt voneinander. So kommt es, dass ich nun nicht nur im Vogelzimmer meine sechs Pfeifen zu sitzen habe, sondern auch noch jeweils zwei Brüllvögel im Wohnzimmer sowie im Quarantänezimmer (oder auch Wickel-, Kinder-, Arbeits- oder Esszimmer genannt; der Name dieses Zimmer ist flexibel und passt sich den Gegebenheiten an, ganz so wie bei Harry Potter). 😉 Die räumliche Trennung scheint für die Kommunikation unter den Tieren aber kein sonderlich großes Hinderniss zu sein und so wird von Sonnenaufgang bis 23 Uhr durch die Wände hindurch gebrüllt. Mein Sohn, den wir akutell im Schlafzimmer geparkt haben, macht fröhlich mit.

Ich kann momentan nicht sagen, wer uns mehr auf Trab hält: ein acht Wochen altes Baby oder zehn Wellensittiche in drei Zimmern. Gestern Nacht hörten wir ein Scheppern und wildes Flügelschlagen. Mein Freund sprang auf, rannte ins Vogelzimmer: Nix! Weiter ins Quarantänezimmer: Nix! Im Wohnzimmer: Nix! „Jetzt wollen die uns auch noch verarschen!“, brummte er zurück im Bett und warf beleidigt die Decke über den Kopf.

Frühstück fällt bei mir schon seit Wochen aus und ich habe mich damit bereits arrangiert, aber die Hoffnung wenigstens einen Tee in Ruhe zu trinken, gebe ich noch nicht auf. Wer meinem Blog schon länger folgt, der weiß, dass meine Wellis, mit denen ich bis vor einem Jahr in einer 1-Zimmerwohnung gewohnt habe, morgens so lange ruhig bleiben, bis ich aufstehe, dann aber schonungslos loslegen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Ich erinnere mich noch lebhaft an die vielen Wochenenden, an denen ich mit voller Blase still im Bett lag – observiert von meinen Wellis im Käfig gegenüber – und zwischen „noch einer halben Stunde Ruhe“ und „schnell auf Toilette“ haderte. Zwar schlafen wir in der neuen Wohnung nicht mehr im gleichen Zimmer mit den Plüschies, aber wir lassen immer die Türen auf, damit ich im Falle einer nächtlichen Panikattacke schnell ins Zimmer sprinten und Licht anmachen kann. Heute, am Heiligabend, stand ich also besonders früh auf, lange bevor Sohnemann und Wellimonster üblicherweise von mir gefüttert werden wollen, und stehle mich an allen Zimmern vorbei in die Küche.Tja, wie eingangs schon erwähnt, ist mein Plan nicht aufgegangen. Kaum hörten meine Wellensittiche Geräusche in der Küche (jaaa, und vielleicht auch mein leises Gefluche), tschiepten die armen verhungerten Tiere los wie am Spieß. Wie ein Lauffeuer breitete sich der Lärm von Zimmer zu Zimmer aus, bis ich schließlich aus allen Räumen der Wohnung angebrüllt worden bin.

Nachdem gegen Mittag endlich alle satt gefüttert sind und ich alle Volieren, Popos und Zimmer gesäubert habe, sitze ich nun mit Laptop und Tee auf dem Sofa. Die zehn Wellensittiche brubbeln zufrieden vor sich hin und das Baby neben mir schläft den Schlaf der Gerechten. Ihn stört das Zwitschern der vielen Vögel überhaupt nicht, im Gegenteil, der Kleine ist tiefenentspannt. Ganz die Mama eben! Auch von mir fällt die Hektik des Morgens langsam ab und während ich an meinem Tee nippe, entsinne ich mich eines Zitates von Goethe über gute Eltern:

Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Vögel.

Ok, vielleicht hat Goethe „Flügel“ geschrieben. Vielleicht hat er es im metaphorischen Sinne gemeint. Hätte er aber Wellensittiche gehabt, so bin ich mir sicher, stünden die Flügel als Pars pro Totum für Vögel! Denn schließlich gibt es nichts schöneres als an Weihnachten vor dem geschmückten Baum zu sitzen, dem leisen Brubbeln seiner Wellensittiche zu lauschen und gemeinsam „Stille Nacht“ zu singen…

In diesem Sinne ein frohes Weihnachtsfest an euch, meine lieben Leserinnen und Leser, sowie an eure Wellensittiche.

2 Gedanken zu “Wurzeln & Flügel

  1. Ich kann leider aus gesundheitlichen Gründen keine Flauschis mehr haben. Aber ich hab mich sehr gefreut über die anschauliche „Weihnachtsgeschichte“ und ja, man kann noch so leise sein, Wellis schlafen mit weitoffenen Ohren! Und auch für mich gibt es nichts entspannenderes als Welligezwitscher. Viel Freude und noch schöne Feiertag und ein gutes gesundes Neues Jahr 2018 wünsche ich Euch!

  2. Eine Weihnachtsgeschichte? Jaaa – eine Weihnachtsgeschichte! So liebevoll geschrieben, man meint die Liebe zu Mensch und Tier zu spüren. Danke für deine Fürsorge. Danke, dass du uns teilhaben lässt und deinen Miniman von Anfang an in die „richtige“ Richtung lenkst 😉

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